Sehnsucht nach den verbotenen Bildern

Zum diesjährigen Musikprotokoll im Steirischen Herbst

Seit nunmehr fünf Jahren zeichnet Christian Scheib für das Musikprotokoll im Steirischen Herbst programmatisch verantwortlich. Und er hat viel bewegt. Das oft sterile Umfeld zeitgenössischer Festivals wurde, bisweilen sogar mit der Brechstange, aufgebrochen. Experimente hin auf Bereiche der improvisierten Musik, hin zu avantgardistischen Ansätzen aus dem Pop-Bereich, hin zum Sound-Design wurden groß geschrieben.

Man zog aus den Konzerträumen aus und verlagerte Projekte in Fabrikhallen, in Disco-Bunker oder in stillgelegte Cafés. Mit dem Ortswechsel ging gleichzeitig ein Werte-Wandel einher. Die alten Besucher des Steirischen Herbstes, ausgestattet mit dem Rüstzeug von E-Avantgarde-Kriterien, verspürten die Einseitigkeit, die Stumpfheit ihrer Wertmaßstäbe. Wie auch sollte man zum Beispiel ein einstündiges Kratz-Rauschen bewerten, das während der Zerstörung eines Tonabnehmers mittels Sandpapier kreischend entsteht? Und gleichzeitig mit dem Kurswechsel wurden auch die alten Interpreten, die standardisierten Ensembles für Neue Musik an den Rand gedrückt.

Schon seit Jahren ergeht es dem Beobachter, der ein oder zwei Wochen später dann die Donaueschinger Musiktage besucht, gerade so, als würde er aus einer quirlig schlammigen, unausgegorenen Ursuppe in wohlanständige Regionen einer aseptisch abgeklärten Avantgarde auftauchen. Klammheimlich spürt auch der verbohrte Avantgarde-Idealist, dass Graz mehr Fühler zumindest in die nahe Zukunft ausstreckt, von der ja längst nicht ausgemacht ist, ob es eine gute ist. Werke mit Ewigkeitswert darf man hier kaum erwarten, dafür aber Konzepte, Projekte, irrsinnige Gedankensplitter, Verdrehtes, Verhackstücktes.

Ganz dürfte diese Entwicklung Peter Oswald nicht gefallen. Er hatte bis in die 90er-Jahre hinein das Musikprotokoll zum populären Tummelplatz des Neuen entwickelt, nun aber hat er die Federführung für den gesamten Steirischen Herbst übernommen. Er wird sich fortan gewiss auch in die Programmatik des Musikprotokolls einmischen. Das letzte Festival, das noch ohne seine Zuständigkeit programmiert wurde, wirkte denn auch in seiner Radikalität wie ein Verteidigungswall gegen seine wohl runderen, konventioneller avantgardistischen Fortsetzungen.

Nur eine Beobachtung: Wirkte bislang das Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Wien, das es in diesem Jahr gar nicht gab, zumeist wie ein mumifiziertes Fossil im Rahmen des Musikprotokolls, so musste sich diesmal das allen „E-Musik“-Avantgardismen aufgeschlossene „Klangforum Wien“ mit freilich eher spröden Werken von Wolfgang Suppan, Wolfram Schurig und – noch am spannendsten – von Misato Mochizuki völlig an den Rand der Ereignisse gedrängt fühlen. Denn in der neu erschlossenen Waagner-Biro-Halle in einem vom Hauptbahnhof gnädig verdeckten Industriekomplex herrschten keine Bedingungen, die den ohnehin eher stillen Arbeiten angemessen waren. Zudem hatten sie zum diesjährigen Thema des Bilderverbots, respektive der Bebilderung von Musik allenfalls in Reflexion gewendete Argumente aus zweiter Hand anzubieten. Gehört wurde das Konzert nur unter erschwerten Bedingungen, also kaum. Zu sehen außer dem fleißigen Dirigenten Johannes Kalitzke und den Musikern gab es gar nichts.

Bilderverbot

Viel vom mosaischen Bilderverbot war beim Musikprotokoll im Steirischen Herbst die Rede, vom Verbot, die Welt abbildend zu verdoppeln. Kunst machen aber ist ohnehin Sünde, zumindest Hybris: So drehten die Organisatoren das statuarisch asketische Gebot um und verwandelten es dem Takt heutiger Zeit gehorchend um in „(sounds + visuals): Bilderverbot. Audiovisuelle Konzerte & Experimente in Kino, Bad, Industrie- und Medienraum“. So rutschten die Besucher vom guten Alten ins schlechte Jetzt, in Konzepte, bei denen freilich zumeist Hören und Sehen verging.

Denn Probleme, überhört oder übersehen zu werden, wie sie sich dem Klangforum Wien stellten, hatten die Watt- und Volt-verstärkten anderen Gruppen in dem andersartig-gemütlichen Ambiente dann nicht mehr. Echtzeit-Computer rechneten wie verrückt und wurden teilweise in ihren gemütlichen Regelkreisen vehement aus dem Gleis geworfen. Sie reagierten mit schrillem Aufkreischen, mit Rückkopplungen, mit bubberndem Absaufen. Dazu gab es Projektionen auf Leinwände oder andere Reflektoren: Bilder, Grafisches, die sich ineinander verschoben und wenn es hoch kam surreal brachen. Unverkennbar war: Hier herrscht Leben, kreative Emphase. Unverkennbar war aber auch, dass die hervorgelockten Geis-ter längst noch nicht beherrscht sind.

Die Gruppen nämlich, die unter Namen wie „reMI“, „E69“ oder nur mit einem Projekttitel wie „bioplex“, „Moment Gelée“, „Tance Bakxai“ oder „boiled frogs“ auftreten, bewegen sich allesamt noch mehr oder weniger in einer Vorstufen-Bastelschule. Freilich geben die mit Millionen-Beträgen gefütterten Video-Clips der Pop-Kultur ein Niveau an Ton-Bild-Korrelation vor, das auf Avantgarde-experimenteller Ebene kaum zu erreichen ist. So verlässt man sich meist etwas blauäugig auf Effekte des spontanen Eingriffs.

Schwachstellen

Hierbei entstehen dann aber evidente Schwachstellen. Wie Klang und Bild auf ganz neue Weise, weit jenseits des Musiktheaters oder des musikunterlegten Films zu gestalten wäre, was Rhythmus im Bild und im Ton bedeutet oder bedeuten kann, wie sich Zeitverläufe musikalisch und in Filmsequenzen generieren, darüber wurde offensichtlich auf dieser Ebene noch wenig nachgedacht.

Ein einfaches Beispiel: Ein pulsierender Klang vermag erotische Sinnlichkeit zu evozieren, während eine wiederholte Bildfolge oft das Gegenteil, den Trend zur egalitären Leere hervorruft. Koppelt man beides in der Hoffnung auf Verstärkung, so entsteht oft Verunsicherung durch Ablenkung. In solchem Rahmen aber bewegten sich die Projekte zumeist.

Zu beobachten ist innerhalb dieser Szene, dass die Vorliebe für die technische Verfügbarkeit, das Ausprobieren, auch das In-Gang-Halten von computergesteuerten Prozessen einen Großteil der schöpferischen Kraft absorbiert. Der Reiz an sich minimalistisch verschiebenden Soundflächen, an rotierenden Bildsequenzen genügt sich häufig selbst. Aus den Augen aber wird verloren, dass das Produkt auch Erkenntnisse, neue sinnliche Erfahrungen zu vermitteln hätte, Erfahrungen, die über den raumgesteuerten Klangeffekt hinauszugehen hätten.
So aber ließen die Produkte häufig eine Kraft spüren, die schnell im Feeling, in der leeren Gewalt des Schalldrucks, im Spiel von sich gegenseitig verschiebenden Wellen, die die allgegenwärtigen Computer willig errechneten, hängen blieb. Substanz, Tiefsitzendes blieben dabei außen vor. Freilich können Konzeptionen wie etwa der Versuch von „reMI“, Computer über ihre Leistungsfähigkeit zu treiben und dabei die Reaktionen zu verfolgen oder auch heterogen Zusammengewürfeltes der Moskauer Gruppe „E69“, die mit Gefängniskleidung, futuristischem Outfit, verfließenden Bildern und Teremin-Geweine und harten Klangkaskaden protzte, durchaus das Interesse fokussieren.

Neue Schürfstellen

Bald aber wird der Prozess zum durchschaubaren Selbstlauf und das Interesse erlischt. Ebenso litt Gerhard E. Winklers „Hybrid V“ für Frauenstimme, Echtzeitpartitur und interaktive Klang- und Videosteuerung als Rückkopplungsverfahren zwischen Stimme und maschinellen Prozessen daran, dass der Betrachter beziehungsweise Hörer nur undeutlich wahrnimmt, in welche geplanten oder abweichenden Bahnen das Stück geriet. Ratlosigkeit blieb, die noch am ehesten von „Moment Gelée“ des Persers Kiawasch Saheb-Nassagh durchbrochen wurde. Hier gelang auf der Basis einer komponiert/improvisierten, formal zwingend gebauten musikalischen Form auch ein Videoverlauf, dessen Rhythmen sich kreativ zum Gehörten brachen. Ein partiell lustvoller Höhepunkt, der in den weiteren Programmpunkten bald wieder egalisiert wurde.

Nicht aber so, dass man das ideell Projizierte gleich ad acta legen möchte. Das diesjährige Musikprotokoll legte Potenziale offen, neue Schürfstellen. Die Mechanismen ihrer Erschließung aber – darf man sagen hin auf eine humanistische Sicht? – sind noch längst nicht in ihren Möglichkeiten ausgearbeitet. Auf das Patent aber wartet wohl schon die Kulturindustrie der kommenden Jahrzehnte. Und dann dürfte es für den gestellten, aber noch nicht durchgearbeiteten Anspruch schon wieder zu spät sein.

Reinhard Schulz

Kultur 2000-03-04


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